Mäßigung und Verzicht in der Wirtschaft? HFH-Absolvent untersucht Potenzial von Suffizienz für Unternehmen
Das Jahr 2023 ist schon seit Anfang August zu Ende. So zumindest kann man es ausdrücken, wenn man auf den Ressourcenverbrauch blickt: Der 2. August war der „globale Erdüberlastungstag“. Er wird jährlich vom Global Footprint Network berechnet und beschreibt den symbolischen Zeitpunkt, an dem alle Ressourcen aufgebraucht sind, welche die Ökosysteme der Erde pro Jahr erneuern können. Für die Industrienation Deutschland fiel der Tag sogar schon auf den 4. Mai.
Einem drohenden Kollaps entgegenwirken sollen Nachhaltigkeitsstrategien, die sich in der Diskussion um Grüne Politik und Green Economy häufig um die Leitstrategien Effizienz, Konsistenz und Suffizienz drehen. Dabei scheint insbesondere das Thema Suffizienz, verstanden als ressourcenschonender Lebensstil, nicht ohne Weiteres in ein Wirtschaftssystem zu passen, in dem nicht Mäßigung, sondern Wachstum und Rentabilität maßgebend sind.
Mit der Frage, ob und wie suffiziente Strategien in Unternehmen der freien Marktwirtschaft denk- und umsetzbar sind, hat sich HFH-Absolvent André Jäger in seiner Abschlussarbeit im MBA-Studium beschäftigt. Sie trägt den Titel „Suffizienz als Leitstrategie von Unternehmen. Potenziale, Chancen und Risiken am Beispiel der Gemeinwohl-Ökonomie“.
Wir sprechen im Interview mit André Jäger über seine Veröffentlichung und das Thema Gemeinwohl-Ökonomie, das die HFH wieder ab Januar 2024 als akademische Weiterbildung anbietet.
Interview mit Autor André Jäger
Hallo Herr Jäger, herzlichen Glückwunsch zum MBA-Abschluss und zur erfolgreichen Publikation Ihrer Abschlussarbeit! Können Sie uns berichten, was Sie konkret untersucht haben?
Vielen Dank für die Glückwünsche! In meiner Arbeit habe ich untersucht, wie Unternehmen der Gemeinwohl-Ökonomie Suffizienz als Leitstrategie der Nachhaltigkeit fördern. Konkret untersucht die Arbeit, wie Suffizienzstrategien in der unternehmerischen Praxis mit Chancen, Risiken und ökonomischer Stabilität verankert sind, und wo es Potenziale und Transferleistungen geben kann.
Vorab kurz zur Einordnung: Suffizienz ist zusammen mit Effizienz und Konsistenz eine der drei Komplementärstrategien im Nachhaltigkeitsdiskurs:
Effizienz zielt auf eine Verbesserung der Ressourcenproduktivität, während Konsistenz auf die Wirksamkeit durch Weiterverwertung ausgerichtet ist – von einer linearen Produktwirtschaft hin zu durchgängigen Kreislaufprozessen. Diese beiden Strategien zielen auf vorwiegend technische Lösungen.
Suffizienz zielt auf die Frage des guten Maßes – also einer Einordnung, welches Handeln hinsichtlich des Ressourcenverbrauches sinnvoll ist. Suffizienz wird oft fälschlicherweise vor allem negativ mit reinem Konsumverzicht konnotiert und in die Verantwortung von Privathaushalten eingeordnet.
Für unternehmerisches Handeln wird der Suffizienz im wirtschaftlichen, im gesellschaftlichen und auch im wissenschaftlichen Diskurs oft weniger Relevanz beigemessen. Diesen unterbeleuchteten Aspekt greift meine Arbeit auf.
Wie sind Sie bei Ihrer Untersuchung vorgegangen?
Für die Bearbeitung der Frage habe ich mich mittels Experteninterviews auf Unternehmen der Gemeinwohl-Ökonomie und dieser nahestehenden Unternehmen konzentriert.
Hier habe ich untersucht, wie diese Unternehmen der Privatwirtschaft Suffizienz als Leitstrategie der Nachhaltigkeit fördern. Dazu wurden zunächst existierende Suffizienzstrategien herausgearbeitet und kategorisiert. Für ein weiteres Verständnis habe ich in meiner Arbeit die Motivationen der Unternehmen für suffizientes Handeln untersucht und die Chancen und Risiken dieser Strategien beleuchtet.
Entscheidend ist die ökonomische Nachhaltigkeit: Die Unternehmen sind wie alle anderen in das derzeitige Wirtschaftssystem eingebettet und müssen entsprechend ökonomisch wirtschaften. Für eine Transferleistung – und weiter gedacht für eine transformatorische Wirkung – sind die Potenziale der Zukunft und auch die Frage nach einer möglichen Umsetzung in anderen Unternehmen von Bedeutung, zum Beispiel in Form von Inspiration.
Warum haben Sie sich in Ihrer Arbeit gerade auf Unternehmen konzentriert, die dem Ansatz der Gemeinwohl-Ökonomie nahestehen?
Ich habe für die Untersuchung Unternehmen herangezogen, die bereits in signifikanter Weise Suffizienzstrategien umgesetzt haben. Unternehmen der Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) arbeiten in der Regel mit dem Instrument der sogenannten Gemeinwohl-Bilanz – und in dieser ist Suffizienz eines der zentralen Abfragekriterien.
Auch wenn man daraus nicht ableiten kann, dass in jedem Unternehmen der GWÖ schon Suffizienzstrategien vertreten sind, beschäftigen sich diese Unternehmen in der Regel intensiv mit sozialökologischen Fragen und bieten damit günstigere Voraussetzungen, um auf Suffizienzstrategien zu treffen.
Um verwertbare Ergebnisse zu generieren, habe ich Unternehmen ausgewählt, die mindestens vier Suffizienzstrategien ausdrücklich thematisieren oder bei denen zumindest eine Strategie vorhanden ist, die den Wertschöpfungsprozess des Unternehmens in bedeutender Weise prägt. Zwei von sechs befragten Unternehmen sind GWÖ-nahestehend, das heißt, sie haben zusätzlich zu den Suffizienzstrategien bereits viele Kriterien der Gemeinwohl-Matrix umgesetzt.
Ein weiterer Grund für die Wahl von GWÖ-Unternehmen war die Chance, zusätzlich Berater:innen aus dem GWÖ-Umfeld in Experteninterviews zu befragen, um die Ergebnisse aus der Metaperspektive weiter zu fundieren.
In einigen Ansätzen der Wirtschaftstheorie wird von „Wachstumszwang“ gesprochen. Auch wenn der Begriff umstritten ist, scheint doch Einigkeit zu bestehen, dass bei ausbleibendem Wirtschaftswachstum Krisen drohen. (Wie) kann Suffizienz als unternehmerische Leitstrategie unter dieser Annahme funktionieren?
Zunächst ist festzustellen, dass die untersuchten Unternehmen in unser Wirtschaftssystem eingebettet sind und als Unternehmen der Privatwirtschaft funktionieren.
Die Unternehmen der Gemeinwohl-Ökonomie erstellen zusätzlich zur herkömmlichen Bilanz die sogenannte Gemeinwohl-Bilanz. Dieses ist die Grundlage für die Gemeinwohl-Bilanzierung, durch die in stärkerem Maße soziale und ökologische Kriterien herangezogen und Entwicklungsprozesse gefördert werden.
Das steht dem Wirtschaftssystem nicht entgegen, fordert jedoch einen erweiterten Blick auf und die Bereitschaft zu fundamentalen organisationalen Entwicklungen. Eine Gemeinwohl-Bilanzierung stellt somit im betriebswirtschaftlichen Sinne einen zusätzlichen Aufwand dar und muss finanziert sein - im klassischen betriebswirtschaftlichen Kontext.
Bei den Suffizienzstrategien verhält es sich ähnlich: Durch die Extra-Anstrengungen stellen diese zunächst einen höheren Aufwand dar. Die Motivation der Unternehmen und die ökonomische Tragfähigkeit sind in den entsprechenden Kategorien untersucht.
Insofern haben wir es nicht mit einer Widersprüchlichkeit, sondern unter klassischem Gesichtspunkt mit einem Extra-Aufwand zu tun, der zugunsten von ökologischen und sozialen Zielen getätigt wird.
Wie gehen die von Ihnen untersuchten Unternehmen mit diesem Spannungsfeld zwischen Wachstum und Suffizienz um?
In den interviewten Unternehmen gibt es eine Spannbreite von Erfordernissen hinsichtlich des Wachstums. Einige Unternehmen sind durch das Produkt finanziell gut aufgestellt und gehen bewusst ein entschleunigtes Wachstum ein.
In mehreren anderen Unternehmen stellt sich die Frage nach dem richtigen Maß hinsichtlich des Wachstums und der Gewinnmaximierung. Das Wachstum als oberste Maxime wird infrage gestellt und teils begrenzt – hier haben wir es meist mit sozialen aber auch ökologischen Zielkriterien zu tun.
Wiederum andere Unternehmen, etwa eine neu gegründete Genossenschaft, sind auf Wachstum angewiesen; dann wirken sich Suffizienzstrategien wegen des Mehraufwandes wachstumshemmend aus und müssen in diesem Stadium eingeschränkt werden.
Suffizienzstrategien widersprechen zunächst der marktwirtschaftlichen Rentabilitätslogik und führen zunächst zu einem Verzicht auf maximalen Gewinn, können paradoxerweise aber auch für Stabilität sorgen: Die positiven Folgen, etwa ein besonderes soziales Miteinander oder ein verbessertes Verhältnis zu den Zuliefernden können positive Effekte wie eine stärkere Bindung der Stakeholder oder eine Steigerung der Zufriedenheit mit sich bringen.
Es geht jedoch um eine Haltungsfrage: Den Suffizienzstrategien liegen unterschiedliche Motivationen der Veränderung zugrunde, um zunächst innerhalb des Wirtschaftssystems Veränderungen herbeizuführen.
Nicht zwingend wirken diese sich negativ auf ökonomische Stabilität aus: Diese muss gegeben sein; dann jedoch nicht als Zielkriterium der Gewinnmaximierung, sondern als Voraussetzung eines guten Unternehmens mit einer anderen Art des Arbeitens und Wirtschaftens und auch mit neuen Möglichkeiten, um sozial-ökologische Fragestellungen anzugehen und zu lösen.
Im gesellschaftlichen Diskurs hat man den Eindruck, dass den Ideen von Effizienz und Konsistenz häufiger zugestimmt wird, als dem Punkt der Suffizienz. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Effizienz und Konsistenz sind in der politischen, technischen und wirtschaftlichen Diskussion akzeptiert. Beide Begriffe sind sprachlich geläufig und in Forschungsarbeiten zahlreich thematisiert, etwa unter dem Begriff „Cradle to Cradle“, einem Ansatz für eine durchgehende Kreislaufwirtschaft. Hier liegen in der Regel (prozess-)technische Lösungsansätze zugrunde.
Der Begriff Suffizienz wiederum ist in einer engen Sichtweise oft negativ konnotiert, mit Begriffen wie Verzicht, Askese und Verbot suggeriert er eine Beschneidung der Lebensfreude oder wird schnell mit einer Art Bevormundung assoziiert.
Suffizienz in einem erweiterten Verständnis hingegen verfolgt einen anderen Ansatz: Zugrunde liegt hier ein erweitertes Wohlstandsverständnis unter Einbezug nicht-materieller Kriterien für ein zufriedenstellendes Leben.
Es geht dabei nicht um eine Negation materiellen Wohlstands, sondern um ein erweitertes Wohlstands- und damit auch Wirtschaftsverständnis, das letztlich die Vorstellung davon, was Lebensqualität ausmacht, von einem rein materiellen Wohlstand entkoppelt.
Die Relevanz dieses Sichtwechsels zeigt sich auch in der aktuellen Wohlstandsforschung des „Better Life Index“ der OECD, der Faktoren für ein gelingendes Leben benennt. Nur drei dieser elf Faktoren sind rein materieller Natur, die restlichen acht sind Faktoren, die für Lebensqualität abseits vom rein materiellen Wohlstand verantwortlich sind.
Wie lässt sich dieses erweiterte Verständnis von Suffizienz als unternehmerische Strategie nutzbar machen?
Unternehmerische Suffizienzstrategien laufen der Maxime Gewinnmaximierung entgegen und scheinen auf den ersten Blick unvereinbar mit dem derzeitigen Wirtschaftssystem. Im unternehmerischen Kontext lösen sie oft noch mindestens Skepsis aus. Auch gesellschaftlich ist diese Skepsis abseits vom tendenziell vorherrschenden rein materiellen Wohlstandsdenken verankert. Daher ist der Begriff Suffizienz im unternehmerischen Kontext nach wie vor erklärungsbedürftig.
Meine Untersuchung zeigt jedoch, dass es Wege und Möglichkeiten im unternehmerischen Handeln gibt, um Suffizienzstrategien zu etablieren.
Mit den Suffizienzstrategien wird, wie oben angedeutet, ein erweitertes Verständnis eines unternehmerischen und gesellschaftlichen Wirtschaftens gefördert. Sie versprechen Potenzial, positive soziale und ökologische Auswirkungen eines gelingenden Miteinanders zu fördern und über neue zu lösende sozial-ökologische Fragestellungen nachzudenken – über die reine Ressourcenwirtschaft hinaus.
Suffizienzstrategien – komplementär betrachtet – eröffnen somit neue Chancen eines Wirtschaftens, in dem ökologische, soziale und ökonomische Nachhaltigkeit zusammenwirken.
Lieber Herr Jäger, vielen Dank für Ihre Antworten!
Jäger, Andre (2022): Suffizienz als Leitstrategie von Unternehmen
Potenziale, Chancen und Risiken am Beispiel der Gemeinwohl-Ökonomie
oekom-Verlag
ISBN: 978-3-98726-006-3
Softcover, 176 Seiten